Das Meer – ein blaues Grab

bild matal

La Valletta – die brodelnde Hauptstadt der Insel Malta, im Herzen des Mittelmeeres. Schon lange gehört diese alte Stadt mit ihren Sehenswürdigkeiten und den symmetrisch angeordneten Strassen voller Läden zu den Touristenattraktionen der Insel.

Es war ein heisser Morgen im August. Die Touristen strömten in Scharen der Hauptstadt entgegen. Einige kamen von dem grossen Kreuzfahrtschiff, welches am Vortag im Grand Harbour angelegt hatte. Sie würden nur diesen Tag auf der mediterranen Insel verbringen. In Gruppen wollten sie Malta besichtigen, geführt von einem Reiseleiter, der mit hoch erhobener Tafel und nicht weniger hoch erhobener Brust seine Schäfchen um sich scharte und ihnen dies und jenes erzählte. Andere Touristen waren alleine unterwegs, wollten die Insel auf eigene Faust erkunden. Sie hatten ihren ganzen Mut zusammengenommen und waren mit den öffentlichen Bussen bis vor die Hauptstadt vorgedrungen. Nach der beschwerlichen Busfahrt schwankten sie ein wenig, folgten aber dennoch hektisch den anderen Touristen. Die Kühle der Gassen von La Valletta liess jedes noch so müde Bein einen schnelleren Gang einlegen. In ihrer Eile, ihr Reiseziel La Valletta zu erreichen, blickten die meisten Touristen weder nach links noch nach rechts. Nur wenige blieben einen Moment lang vor dem Eingang eines wohlgepflegten Gartens stehen und betrachteten kurz, aber dennoch mit kindlicher Neugier in den Augen das Denkmal, welches sich in der Mitte dieses Gartens zum Himmel emporstreckte. Dieser oder jener fingerte noch schnell an seinem Fotoapparat herum, welchen er an einem Band um den Hals oder an der Seite trug, bevor er sich wieder dem Strom der schwitzenden Menschen anschloss, dem Eingang der Hauptstadt entgegen. Die Bilder würde er nach den Ferien kurz betrachten, dabei vielleicht in Gedanken den Architekten Sir Hubert Worthington bewundern; und das würde es wohl sein.

Ich entsinne mich noch heute, wie ich am Eingang dieses Gartens stand. Eine grüne Oase auf der sonst trockenen Insel. Ich wollte nicht daran denken, wie viel Wasser man aufwenden musste, um diesen Garten instand zu halten. Doch nicht das frische Grün des Grases, nicht die sich empor schwellenden Palmen zogen meinen Blick in ihren Bann. Ich starrte unentwegt auf dieses Gebilde, welches leicht erhöht und dennoch verlassen dastand. Der Stein, aus dem das Denkmal geformt worden war, war weisser Marmor, der aus einem Gebiet in der Nähe Roms stammte. Am Sockel waren 20 bronzene Platten befestigt, die dunkel gegen den Marmor hervortraten. Weiter oben wurde das Kunstwerk dünner, verlief in einer runden weissen Marmorsäule, welche mit feinen Verzierungen ausgestattet war, bis in den Himmel. Und auf dieser Säule, in 15 Metern Höhe, prangte ein goldener Adler auf einer ebenso goldenen Kugel. Die Flügel des Adlers waren gespreizt, zum Abflug bereit. Langsam näherte ich mich dem Denkmal, ohne zu wissen, was mich genau anzog. War es bloss Neugier? Nein, da war noch etwas. Ich wusste, was dieses Denkmal bedeutete, wem es gewidmet war. Als ich zögernd herantrat, konnte ich auf den dunklen Platten die Namen entziffern. Namen, welche nichts aussagten, keine Bedeutung hatten, keine Geschichte. Oder doch?

Dieses Denkmal, welches ausserhalb La Valletta, genauer in Floriana, unbeachtet von den meisten Touristen seine ganze Schönheit und Trauer ausstrahlt, ist das Commonwealth Air Forces Memorial. Es ist den 2300 Militärpiloten gewidmet, die in den zahlreichen Luftschlachten im Mittelmeerraum während des zweiten Weltkrieges ihr Leben lassen mussten. Ihre Leichen wurden nie geborgen. Das Meer würde ihr blaues Grab bleiben. Ich sehe mich immer noch, wie ich dastand, den Blick auf die bronzenen Platten gerichtet. Wie eine Schlafwandlerin las ich die Namen der Männer, die ihr Leben für ihr Vaterland, für den Frieden geopfert hatten. Mein Blick blieb auf einem Namen haften. War es Zufall? Der Name hallte in meinem Kopf wieder, drang durch mich, durch meinen Körper. Mein Herz setzte einen Schlag aus, um danach nur noch schneller den verlorenen Schlag wieder aufzuholen.

„Walter Brown, aged 19”

19 Jahre alt. Vor meinem inneren Auge entstand ein verschwommenes Bild, welches allmählich schärfer wurde. Ein Bild von einem jungen Mann, kaum erwachsen, im Innern wahrscheinlich immer noch ein unbekümmertes Kind. Die strohblonden Haare fielen ihm wild über die Stirn, die blauen Augen leuchteten voller Schalk. Sie hatten noch nicht viel gesehen, hätten das Recht gehabt, das Schöne der Welt zu entdecken, die Freude in anderen Augen zu finden. Stattdessen wurden diese blauen Augen getrübt, mussten Leid mit ansehen, einsehen, dass jegliche Hilfe zu spät war. Und schließlich wurde dieses Licht, dieses Leuchten in Walters Augen ausgelöscht. Zerstört. Für immer. Sie versanken im Meer, das genauso azurblau gewesen wäre wie diese Augen, wäre es nicht schon vom Blut der vielen Gefallenen verfärbt gewesen.

Walter Brown. Woran hatte er geglaubt, welche Hoffnungen hatte er in seinem Herzen getragen, als er in den Krieg gezogen war? Dachte er vielleicht, dass mit diesem Krieg der Friede auf der Welt wiederhergestellt werden könnte? Dass das Böse im Menschen zerstört und das Gute für immer siegen würde? Oder hatte sein Herz ihm befohlen, am Krieg teilzunehmen, um die Menschen, die er liebte, zu beschützen? War es vielleicht die Abenteuerlust gewesen, die ihn angetrieben hatte? Etwas zu erleben, die Welt zu sehen, Mann unter Männern zu sein, Stärke und Mut zu zeigen? Wann hatte er gemerkt, dass der Krieg ein ewiger Leidensweg ohne Zurück ist? Er bestand und besteht immer noch aus Leid und unerträglichem Schmerz.

All diese Fragen werden unbeantwortet bleiben, denn Walter Brown wird für immer schweigen. Ich dachte an seine Familie, an seine Mutter und an seinen Vater, die auf Walters Rückkehr gewartet hatten; jeden Tag in unendlicher Angst und Sorge verbracht, aber trotzdem immer Hoffnung bewahrt hatten. Ihr Leben war genauso zerstört worden wie das seinige. In dem Moment, als das Leuchten in Walters Augen erloschen war, war, bevor sie überhaupt vom Tod ihres Sohnes erfahren hatten, ein Loch in ihre Herzen gemeißelt worden, so fein und so schmerzvoll, dass es nie heilen konnte. Vielleicht hatte Walter auch eine kleine Schwester hinterlassen, die ihren Bruder angehimmelt hatte, für die er die Welt bedeutet hatte. Dann waren da die Freunde, die nicht in den Krieg gezogen waren. Sie hatten zuhause verharrt und nun war eine Lücke zwischen ihnen entstanden. Jemand fehlte bei ihren Streifzügen, bei ihren ausgelassenen Abenden um ein Lagerfeuer, bei ihren draufgängerischen Abenteuern. Vielleicht hatte irgendwo auch eine Frau auf Walter gewartet. Ihr war nichts als ein Foto und sein Versprechen, dass er zurückkommen würde, geblieben. Ein Versprechen, welches nie mehr erfüllt werden konnte.

Ich riss mich aus meinen Gedanken. Wie lange war ich vor dem Denkmal gestanden? Ich wusste es nicht. Ganz benommen blickte ich um mich. Die Sonne brannte auf meinen Rücken, doch ich nahm sie nicht wahr. Erschüttert strich ich mit dem Zeigefinger über die bronzenen Tafeln, ließ ihn zitternd entlang den Einkerbungen der Namen fahren.

„One day President Roosevelt told me that he was asking publicly for suggestions about what the war should be called. I said at once ‘The Unnecessary War‘.“ (Sir Winston Churchill, 1874 – 1965)

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