Der Helm – Fluch oder Segen?

Der Helm schützt unseren Kopf. Logisch. Oder nicht? Seit vier Jahren treten Amateurboxer ohne Kopfschutz in den Ring. Der Grund: Ohne sei sicherer. Anders ist die Regelung beim Kickboxen. Hier ist der Helm bei den Amateuren aus Sicherheitsgründen Pflicht. Was stimmt? Schützt der Helm oder nicht?

„Kluge Köpfe schützen sich.“ Mit diesem Slogan rufen die Beratungsstelle für Unfallverhütung oder der TCS auf, einen Helm zu tragen. Beim Velofahren. Beim Skifahren. Beim Snowboarden. Der Ton ist klar: Der Helm schützt.

Nun wurde aber gerade im Boxen – dem Sport, in dem sich Kämpfer absichtlich auf den Kopf schlagen – vor vier Jahren der Helm abgeschafft. Was ist passiert?

1984 wurde der Kopfschutz beim Amateurboxen eingeführt und war fast 30 Jahre lang fester Bestandteil der Ausrüstung. Bis im Jahr 2013: Der Weltverband der Amateurboxer AIBA schaffte den Kopfschutz für männliche Amateurboxer in internationalen Wettkämpfen ab. Die Kopfschutzpflicht galt nur noch für Frauen und jugendliche Amateurboxer. Die Erklärung der AIBA: Der Helm würde die Kämpfer nicht so gut wie erhofft vor Gehirnerschütterungen schützen. Im Gegenteil. Laut ihrer Studie nahm die Anzahl Gehirnerschütterungen um 43 Prozent ab, wenn Boxer ohne Helm kämpften.

Anders sieht es im Kickboxen aus. Hier ist der Kopfschutz bei den Amateurwettkämpfen aus Sicherheitsgründen Pflicht. So schreibt es der grösste internationale Fachverband für Kickboxen, die World Association of Kickboxing Organizations (WAKO), vor.

Wer hat nun Recht?

Leidenschaft Kickboxen

© Claire Miallef

© Claire Micallef

Sascha To verbeugt sich, sein Boxhandschuh und der seines Gegners berühren sich kurz. Ein Blick in die Augen. Ein Nicken. Der Kampf beginnt. Sascha To ist Kickboxer und heute, heute wird er sich seinen elften Schweizer Meister Titel im Point Fighting (Kampfdisziplin im Kickboxen) in der Kategorie bis 63 Kilogramm holen. Sascha To ist schlank und durchtrainiert – und kleiner als die meisten seiner Gegner. Er trägt schwarze lange Kickboxhosen, ein schwarzes T-Shirt. Rot und gold prangt der Name seines Vereins darauf. „Apex“ – Lateinisch für Spitze. Dort steht Sascha To heute: an der Spitze der Schweizer Kickboxszene. „Kickboxen ist meine grosse Leidenschaft. Ich lebe es die ganze Woche, den ganzen Tag.“

 © Claire Micallef

Vom Aussehen her, ist er fast das pure Gegenteil von Sascha To: Simon Philipp ist über 1.90 Meter gross und über 100 kg schwer. Seine langen schwarzen Haare hat er nach hinten gebunden, mit den klobigen Boxhandschuhen rückt er seinen Helm zurecht. Die Muskeln sind angespannt, der Blick fokussiert. Kampfbereit.

Simon Philipp ist Kickbox-Weltmeister im Leichtkontakt (Kampfdisziplin im Kickboxen) in der Kategorie plus 90 Kilogramm. Dabei musste er sich an der Weltmeisterschaft gegen noch grössere und schwerere „Höhlentrolls“, wie er sie liebevoll nennt, durchsetzen. Auch für Simon Phlipp ist Kickboxen die grosse Leidenschaft. „Du hast halt ein gewisses Adrenalin und einen ziemlich intensiven Wettkampfgedanke“, sagt der 28-Jährige Wiesentaler.

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Leidenschaft Kickboxen: Das haben die beiden Kämpfer Sascha To und Simon Philipp gemeinsam. Wenn es aber um den Kopfschutz geht, scheiden sich die Geister. Während Schweizermeister Sascha To lieber ohne Helm kämpft, möchte der Weltmeister Simon Phlipp nicht auf den Kopfschutz verzichten. „Der Helm dämpft ganz viel, du hast nicht den direkten Kontakt mit dem Fuss oder dem Handschuh“, sagt Simon Philipp. Genau dies würde allerdings Sascha To dazu verleiten, offensiver zu kämpfen. „Wenn ich den Helm trage, habe ich öfters Nasenbluten oder sonst etwas“, sagt er.

© Fotos: Claire Micallef

 Das Gehirn – Joghurt und Mozzarella

In Kampfsportarten wie Boxen oder Kickboxen sind Schläge auf den Kopf nicht einfach eine seltene Unbequemlichkeit. Wer in einem Wettkampf den Kopf des Gegners trifft, erhält Punkte. Was passiert aber mit dem Gehirn, wenn ein Kämpfer – ob mit oder ohne Kopfschutz – am Kopf getroffen wird?

„Wenn man einem Schlag auf den Kopf bekommt, gibt es ganz winzige Verletzungen von Nervenfasern, genauer von Axonen“, sagt Jean-Yves Fournier, Leitender Arzt der Neurochirurgie am Kantonsspital St. Gallen. Diese Verletzungen würden einerseits durch den Schlag des Gehirns gegen den Schädel entstehen. „Das Gehirn innerhalb des Schädels ist relativ weich. Die Konsistenz ist etwas zwischen Joghurt und Mozzarella“, sagt Jean-Yves Fournier.  Wenn das weiche Gehirn nun gegen den harten Knochenschädel schlägt, können Nervenfasern verletzt werden.

Ein anderer Grund für die Verletzungen der Nervenfasern liegt bei der weissen und grauen Substanz des Gehirns. Diese beiden Substanzen haben unterschiedliche Funktionen – und eine unterschiedliche Dichte. Wird ein Kämpfer am Kopf getroffen, dreht sich sein Kopf ziemlich schnell in eine Richtung. Wegen der unterschiedlichen Dichte bewegen sich die weisse und graue Substanz verschieden schnell und dadurch werden an der Übergangszone der beiden Gewebeschichten Nervenfasern verletzt.  Kurzfristig würde der Kämpfer diese Verletzungen nicht unbedingt spüren, da sie nicht immer mit einer Gehirnerschütterung verbunden sein müssen, sagt Jean-Yves Fournier. Genau diese schwächeren Schläge bereiten Jean-Yves Fournier Sorgen:

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Sowohl harte und als auch schwache Schläge auf den Kopf, können für Kämpfer gravierende Folgen haben. Folgen, wie Gedächtnisverlust und im schlimmen Fall auch Demenz oder Parkinson. Diese Erkrankungen treten meist erst nach Jahren auf. Ein bekanntes Beispiel eines Boxers, der an Parkinson erkrankt ist, ist Muhammad Ali. Er, der zu den bedeutendsten Schwergewichtsboxern des 20. Jahrhunderts gehörte und den Boxsport massgebend prägte, konnte im Jahr 2012 an der Eröffnung der Olympischen Spielen in London nicht mehr ohne Hilfe gehen. Seine Erkrankung war schon zu weit fortgeschritten.

„Es ist schwer, sicher zu sein, dass Muhammad Ali kein Parkinson entwickelt hätte, hätte er nicht so viele Schläge an den Kopf bekommen. Aber es ist sehr wahrscheinlich“, sagte der Belgische Neurologe und Direktor der Coma Science Group Steven Laureys in seinem TEDx Talk im Frühling 2016 in Liège, Belgien. In diesem Vortrag sprach Steven Laureys über das Risiko von Schlägen an den Kopf. Eine seiner Kernbotschaften: „Shake it and you break it.“ – Schüttle es, und du machst es kaputt.

© TED; www.ted.com; http://bit.ly/2CvG1FC

Andere Kampftechniken ohne Kopfschutz

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Im September 2017 publizierte eine Gruppe von Medizinern und Wissenschaftlern im British Journal of Sports Medicine die erste Studie seit 2013, die die Auswirkungen der Regeländerung der AIBA – die Abschaffung des Kopfschutzes beim Amateurboxen – auf die Strategie, Technik und Sicherheit der Amateurboxer untersuchte. Dabei verglichen die Wissenschaftler Videoaufnahmen von Amateurkämpfen vor und nach 2013. Ihr Resultat: Amateurboxer würden ohne Helm anders kämpfen als mit. Unter anderem würden die Amateurboxer viele Techniken, die vor 2013 dominant waren, ohne Helm seltener brauchen. Dazu gehören der Haken mit der hinteren Hand

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oder der Uppercut.

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Ausserdem hätten die Amateurboxer vor 2013 sich während dem Kampf weniger auf Distanz gehalten und mehr Schläge auf den Kopfschutz in Kauf genommen. Nach 2013, also seit Amateurboxer ohne Helm kämpfen, bewegen sich die Kämpfer um 20 Prozent mehr, um ihre Distanz zum Gegner zu variieren. Zusätzlich sei ihr Kampfstil ohne Helm defensiver: Die Amateurboxer benutzen weitreichende Schlagtechniken und wehren Schläge des Gegners gezielter ab, um den nun ungeschützten Kopf zu schützen. Dies sei wahrscheinlich wegen der Sorge der Boxer, dass das Entfernen des Kopfschutzes sie anfälliger für Knockouts gemacht habe. Und bei einem Knockout ist der Kampf verloren.

Wer nun annimmt, ohne Helm hätten die Schläge auf den Kopf abgenommen, der irrt sich. Die Anzahl der Schläge auf den Kopf hätten laut der Studie nämlich zugenommen. Das Verhältnis von Schlägen auf den Kopf zu Schlägen an den Körper sei von fünf zu eins auf acht zu eins gestiegen. Der Grund dafür: Da die Kämpfer durch ein K.O. des Gegners den Kampf gewinnen können, würden sie nun mehr auf den Kopf anstatt auf den Körper des Gegners zielen.

Ob Amateurboxen nun mit oder ohne Helm sicherer sei, darauf hat die Studie noch keine klare Antwort. Weitere Forschung sei nötig, schreiben die Mediziner und Wissenschaftler. Dabei stelle sich vor allem die Frage, was für die Gesundheit des Kämpfers schlimmer sei: Ohne Kopfschutz einen harten Schlag an den Kopf, K.O., und der Kampf ist vorbei? Oder mit Kopfschutz mehrere Schläge auf den Kopf, weiterkämpfen und noch mehr Schläge riskieren?

„Wahrscheinlich wissen wir noch nicht alles“, sagt Jean-Yves Fournier. Intuitiv hätten wir den Eindruck, der Helm schütze uns gegen Schläge. Allerdings seien die verschiedenen Arten von Verletzungen noch schlecht untersucht. Der Helm würde zwar gegen Platzwunden oder gegen einen Schädelbruch schützen, aber die Wucht eines Schlages würde auch mit Helm auf den Kopf und auf das Gehirn übertragen werden und Nervenfasern im Gehirn verletzen. „Ob mit oder ohne Helm, viele Schläge auf den Kopf sind schädlich für das Gehirn“, sagt Jean-Yves Fournier.

Wie genau eine Gehirnerschütterung ausgelöst wird und was für Folgen sie haben kann, wird in diesem Video einfach erklärt.

Der Kopfschutz: Im Amateurboxen abgeschafft, im Amateurkickboxen Pflicht. Und wahrscheinlich bleiben diese Regeln bei beiden Kampfsportarten in den nächsten Jahren gleich. Denn die Meinungen gehen auseinander, ob nun mit oder ohne Kopfschutz sicherer ist. Ganz nach dem Motto: Kluge Köpfe schützen sich. Oder eben auch nicht.

Meine Radioarbeit

© Claire Micallef

Für meine Diplomarbeit habe ich mit Experten und Kämpfern über Ihre Erfahrungen mit dem Kopfschutz in Kampfsportarten gesprochen. Folgend finden Sie meine Radioarbeit zu „Der Helm – Fluch oder Segen?“.

 

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